Schicksalsplan und das familiäre Unbewusste

Allgemeine Tiefenpsychologie

 

Szondis zentrales Anliegen war eine Integration und Vereinigung der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen in eine „Allgemeine Tiefenpsychologie“.

 

  • Nach Szondi ist eine Integration der tiefenpsychologischen Therapierichtungen Ausdruck der Fähigkeit eines integrierten Ich (Pontifex-Ich), Gegensätze zunächst zu akzeptieren, sie zu Polaritäten zusammenzuführen und schliesslich diese in kreativer und schöpferischer Weise zu transzendieren.

 

  • Szondi wünschte sich deshalb an seinem Ausbildungsinstitut in Zürich eine multidimensionale Ausbildung, in der VertreterInnen der Psychoanalyse, der Analytischen Psychologie nach C.G. Jung und SchicksalsanalytikerInnen integrativ zusammenarbeiten.

 

Szondi wollte die Vielfalt psychotherapeutischer Perspektiven als Manifestationen des einen, jedoch polyglotten Unbewussten belassen. Er verstand die einzelnen tiefenpsychologischen Richtungen als eigentliche Sprachschulen, die sich auf die verschiedenen Ausdrucks- und Kommunikationsformen der menschlichen Seele spezialisiert haben.

 

  • Szondi wies der Psychoanalyse die Sprache der Symptome zu, der komplexen Psychologie nach C.G. Jung die Sprache der Symbole und der Schicksalsanalyse die Sprache der Wahl.

 

Szondi überliess es künftigen Forschungen, weitere „Sprachgebiete“ des Unbewussten zu entdecken. Seitdem hat die transpersonale Psychologie weitere Bereiche des Unbewussten beschrieben.

 

Das familiäre Unbebwusste

Mit der Konzeption des „familiären Unbewussten“ (ungarisch: családi tudattalan) vermochte Szondi ab 1942 seine Schicksalsanalyse an die Psychoanalyse Freuds mit ihrem „persönlichen Unbewussten“ und an die Analytische Psychologie von C.G. Jung mit ihrem „kollektiven Unbewussten“ anzuschliessen.

 

  • Das Wirkprinzip des familiären Unbewussten ist der Genotropismus. Dieser bezeichnet das Streben rezessiver Gene, sich innerhalb der von Herkunfts- und verschwägerten Familien gebildeten Populationen zu reproduzieren und zu überleben.

Die rezessiven Gene regen auf der psychologischen Ebene zur Bildung von „dynamisch-funktionellen Ahnenbildern“ an, wohl eine Art Selbst- und Objekt-Repräsentanzen (Schemata), die in Schicksalspläne und Schicksalsgestaltungen einfliessen.

 

  • Szondi beschreibt das familiäre Unbewusste bildlich als „Wartesaal der Ahnen“. Ahnenbilder (Repräsentanzen) werden nach Szondi auf Menschen projiziert, die selbst Träger („Konduktoren“) der gleichen latent-rezessiven Gene sind.

Durch die wechselseitige Projektion derselben Ahnenbilder (Szondi spricht in diesem Falle von „familiärer Projektion“) entsteht die horizontale, seelisch partizipative Verbindung genverwandter Individuen, eine Art Unio mystica, die als Verschmelzung, Anziehung, Seelenverwandtschaft und Verliebtheit erlebt werden kann.

 

  • Szondi hat das familiäre Unbewusste auch mit einem unbewussten Schicksalsplan gleichgesetzt. Die „Sichtbarmachung der Ahnenansprüche“, die den Schicksalsplan des Einzelnen steuern und prägen, ist wesentliches therapeutisches Ziel der Schicksalsanalyse, um das Postulat Szondis vom „lenkbaren Fatalismus“ therapeutisch umzusetzen.

 

Die therapeutische Analyse eines Schicksalsplanes entspricht in vielen Punkten einer Skriptanalyse der "Transaktionsanalyse" nach Eric Berne. Mit seiner Ahnentheorie und deren psychotherapeutischen Anwendung antizipierte Szondi Sichtweisen der um Jahrzehnte später erscheinenden "Transpersonalen Psychologie" und Psychotherapie.

 

Ahnenträume und Theorie des Traumes

Auch im Traumleben können die dynamisch-funktionalen Ahnenrepräsentanzen zur Bildung von Ahnengestalten anregen. Der träumende Mensch lässt sich Ahnengestalten begegnen, die Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale zeigen, die im schicksalspsychologischen Triebschema diagnostisch unterschiedlichen Triebfaktoren und Erbkreisen zugeordnet werden.

 

  • In „Ahnenträumen“ finden die Wirkungen von latent-rezessiven Genen einen visualisierten, szenischen Ausdruck. Ahnenträume sind nach Szondi Gestaltungen des familiären Unbewussten. Die in den Ahnenträumen stattfindende Begegnung mit den Ahnen entspricht der „Partizipationstheorie des Traumes“.

In der Sicht Szondis versucht der träumende Mensch mit seinem ungelebten, abgespaltenen „Hintergänger“ wieder in Kontakt zu treten, ihn wieder als Lebensmöglichkeit anzueignen und zu integrieren.

 

Im Traum versuchen Menschen wieder mit sich eins zu werden. Im Träumen ist der Mensch zugleich Regisseur und Akteur. Träumen ist ein „autogener Partizipations- und Integrationsversuch“ des vereinsamten Menschen, der seiner Ganzheit verlustig gegangen ist.

 

  • Aus dem szenisch-dramatischen Traumverständnis folgert Szondi, dass nicht das Deuten, sondern das Wiedererleben des Geträumten in der Therapie das eigentlich Heilsame darstellt.

 

Zwischen der Partizipationstheorie des Traumes von Szondi und dem gestalttherapeutischen Traumverständnis von Fritz Perls besteht bis in Einzelheiten von Formulierungen Übereinstimmung.

 

Die Mehrgenenerationenperspektive der Schicksalsanalyse

Das familiäre Unbewusste bildet ein unsichtbares Band, das alle Familienmitglieder vertikal, über Generationen hinweg, an den „Stromkreis der Ahnen“ anschliesst. Es verbindet aber auch horizontal die noch lebenden Mitglieder einer Familie. Durch die vertikalen und horizontalen Verbindungen bilden die Familienmitglieder ein affektiv hochbesetztes Netzwerk.

Die Schicksalsanalyse betrachtet den einzelnen Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern eingebettet in den sichtbaren und unsichtbaren, das ganze Leben begleitenden Kontext von Herkunftsfamilie und Anverwandtschaft. Das Familienerbe beeinflusst vielfach schicksalshaft scheinbar so individuelle Ereignisse wie Partnerwahl, Freundeswahl, Berufswahl, Erkrankung und das Sterben.

 

  • In der Mehrgenerationenperspektive Szondis werden Verstrickungen, auf Einlösung und Begleichung hinzielende Erwartungen, Verdienste, Schulden, Loyalitätsverpflichtungen, Beziehungskonstellationen, Ressourcen, Stärken und Schwächen erkennbar, die sich über Generationen hinziehen.

 

  • Szondi verstand den einzelnen Menschen als Träger und Teilhaber einer familiären Koevolution, als Verwalter eines generationenübergreifenden Ideenerbes („mentales Schicksal“). Für dessen Erhaltung, Entfaltung und Weitergabe sind wir nach Szondi verantwortlich.

 

  • Eine bewusste, vom Ich gewählte Übernahme dieser Verantwortung vermittelt Lebenssinn, familiäre Identität und Solidarität. Szondi sprach von „familiärer Identifizierung“, die frei verantwortet ein „Ich“-, „Wahl“- oder "Freiheitsschicksal“ darstellt.

Werden die familiären Aufträge  und Erwartungen jedoch unbewusst übernommen und in blindem Zwang ausgelebt, behindern, ja unterbinden sie allzu leicht Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des einzelnen Familienmitgliedes. Damit verfällt ein Familienmitglied dem „familiären Wiederholungszwang“ und einem „familiären Zwangsschicksal“, das mit dem Erleben einhergeht, nicht das eigene Leben zu führen.

 

In den Anliegen und therapeutischen Zielsetzungen trifft sich die Mehrgenerationenperspektive Szondis wesentlich mit der kontextuellen „Mehrgenerationen Familientherapie“ von Ivan Boszormenyi-Nagy und der „Koevolutiven Paartherapie“ nach Jürg Willi.

 

Das Triebsystem

Im Zentrum der Schicksalspsychologie steht das durch die Vierzahl geprägte, die Ganzheit der Seele ausdrückende polar angelegte Strukturschema der Schicksalspsychologie, das Triebsystem Szondis. Es kennt

  • vier Triebe (Vektoren, Achsen)
  • acht Triebbedürfnisse (Faktoren) mit je zwei Tendenzen (Plus oder Minus)
  • Für einen Vektor ergeben sich insgesamt 16 Vektorbilder

für alle vier Vektoren insgesamt 64 Vektorbilder.

 

Sie bilden nach Szondi die (genetisch verankerten) Bausteine der menschlichen Schicksalspläne und Existenzformen, die in den Triebprofilen der Experimentellen Triebdiagnostik visualisiert und deutbar werden. Alle Faktoren und Tendenzen stehen in einer polar-komplementären Beziehung. In und zwischen den vier Trieben findet ein dialektisches Zusammenspiel der Triebfaktoren und Triebtendenzen statt.

 

  • Das bereits in der Mitte der dreissiger Jahre entwickelte Trieb- und Bedürfnissystem erwies sich als ausserordentlich integrativ.

 

  • In ihm finden sich die vier Erbkreise der damaligen Psychiatrie, neu jedoch als Schicksalskreise gedeutet:

der Erbkreis der sexuellen Abnormitäten (S-Vektor)

der epileptiforme-paroxysmale Erbkreis (P-Vektor)

der schizoforme Erbkreis (Sch-Vektor)

der zirkuläre oder manisch-depressive Erbkreis (C-Vektor).

 

  • Szondi vermochte nicht nur die Trieblehre, Bedürfnispsychologie und Krankheitslehre der Psychoanalyse voll einzugliedern, sondern brachte triebpsychologische Differenzierungen ein, die sich gegenüber dem Triebsystem Freuds als differenzierter und der therapeutischen Praxis als angemessener erweisen.

 

  • So unterschied er neben libidinös-sexuellen, auf dem Sexualtrieb basierenden Bindungsformen, eigenständige, dem Ichtrieb zugehörige partizipativ-verschmelzende Formen der Bindung, in denen die Bedürfnisse nach Einssein und Verwandtsein gelebt werden.

Ebenso ordnete Szondi neu einem eigenständigen Kontakttrieb leibnahe Beziehungsformen zu, die geprägt werden von den Bedürfnissen nach Angenommensein, Anklammern, Halt, Sicherheit und Ernährtwerden.

 

Damit unterschied Szondi neben den von Freud beschrieben libidinösen Übertragungsbeziehungen zahlreiche weitere nichtlibidinöse Übertragungsbindungen, die in der psychoanalytischen Selbstpsychologien und Narzissmustheorien erst um Jahrzehnte später als Selbstobjekt-Übertragungen (Spiegelübertragung, Zwillingsübertragung, idealisierende Verschmelzungsübertragung nach Heinz Kohut) begriffen wurden.

 

Mit dem eigenständigen Kontakttrieb lässt sich das Triebsystem Szondis mit der Bindungstheorie von John Bowlby verbinden. Bowlby und Szondi berücksichtigten bei ihren Untersuchungen und Überlegungen zum Bindungsverhalten auch verhaltensbiologische Forschungen.

 

Der Szondi-Test

Die Experimentelle Triebdiagnostik, bekannt als Szondi-Test, ist ein Bildwahlverfahren und zählt zu den projektiven Tests.

 

  • Der Test umfasst sechs Bilderserien mit je acht Portraits von triebkranken Menschen, insgesamt 48 Portraits. Die Portraits gelten als Repräsentanten der acht Grundbedürfnisse (Faktoren) des schicksalsanalytischen Triebsystems.

Aus jeder Bilderserie werden die zwei sympathischsten und die zwei unsympathischsten Bilder gewählt. Eingesetzt als psychodiagnostisches Instrument zielt der Test mit Hilfe vielfältiger Deutungsmethoden auf die Erfassung von triebdynamischen Prozessen, von Sozialisierungs- und Humanisierungsmöglichkeiten und auf die Sichtbarmachung von Existenzmöglichkeiten (Existenzformen).

 

Die Sprachmuster, die Szondi für die Deutung der einzelnen Testmerkmale bereitlegte, zeigen alle Merkmale, die typisch für Prozessinduktionen sind, die von HypnotherapeutInnen und VertreterInnen des „Neurolinguistischen Programmierens“ verwendet werden.

Die Sprachmuster zeichnen sich aus durch eine kunstvolle Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit. Schon das Anhören oder Lesen der in den Aussagen unspezifisch und allgemein gehaltenen Auswertung bringt die ZuhörerInnen bzw. LeserInnen in eine Bewusstseinsverfassung, die vermeinen lässt, eine auf ihre individuelle, persönliche Lebenssituation zugeschnittene Auswertung zu erhalten. In Wirklichkeit sind es die zuhörenden oder lesenden KlientInnen selbst, welche unbewusst die fehlenden Spezifikationen mit höchst individuellen Inhalten ihrer Lebens- und Leidensgeschichte ergänzen.

 

Damit schiebt sich der Auswertungstext als Kommunikationsmittel, als „Erzählfolie“ (Bürgi-Meyer), zwischen SchicksalsanalytikerIn und KlientIn. Bei gelungenem Rapport setzt in Ratsuchenden ein emotionaler und kognitiver Prozess der Selbstbefragung und Selbstreflexion ein.

 

Die Wirklichkeitsschau der Schicksalsanalyse

Das schicksalspsychologische Triebsystem begreift das menschliche Leben primär als immer währenden Wandel, als Werden, immerfort Fliessendes, als Kreislauf und Dynamik. Die schicksalsprägende Dynamik des Wandels stammt aus dem triebdynamischen Wechselspiel der (nach Szondi genetisch verankerten) komplementären Polaritäten. Was uns als stabile Struktur der physikalischen und seelischen Welt erscheint, ist nach Szondi in Wirklichkeit ein dynamischer zyklischer Prozess.

 

  • Zu jedem sichtbar Vordergründigen, dem „Vordergänger“, gehört polar ein unsichtbar Hintergründiges, der „Hintergänger“.

Vordergänger und Hintergänger, Aspekte der seelischen Ganzheit, gehören untrennbar zusammen. Zwischen beiden bestehen vektorielle und faktorielle „simultane Kontrastwirkungen“, eine „Wirkungssimultaneität“.

Vorder- und Hintergänger bilden zusammen das „Ganztriebbild“.

 

In der Zusammenschau aller vier Triebe („Vektoren“) entsteht das „Urprofil“ der Schicksalsdiagnostik. Es ist ein Abbild der seelischen Ganzheit. Szondi war sich bewusst, dass sein Triebsystem alle Merkmale einer polhaften „Ursprache“ aufweist. Charakteristisch für sie sind Wortbildungen mit polar entgegengesetzten, jedoch sich nicht ausschliessenden Bedeutungen sowie ein ganzheitliches „Sowohl-als-auch"-Denken.

 

Das Denken, das dem schicksalsanalytischen Strukturschema zugrunde liegt, zeigt alle wesentlichen Merkmale des von Jean Gebser beschriebenen, „kreisenden und polhaft ozeanischen Denkens“, das dem „Mythischen“ nahe steht.

Szondi verweist auf die „Ursprache der Ägypter“. Ihm war jedoch nicht bewusst, dass sein axiales und oktogonales Polaritätensystem in Struktur und Deutungsmethodik erstaunlich viele Parallelen mit dem Buch der Wandlungen, I Ging, und dem ihm zugrunde liegenden taoistischen Denken aufweist. (Das Buch der Wandlungen war jedoch in der Privatbibliothek Szondis anzutreffen).

 

Szondi hat hingegen eine Fülle von Bildern und Begriffen aus der Mystik der hinduistischen Upanishaden verwendet, um die Funktion des die Polaritäten überbrückenden Ich zu umschreiben.

 Für die polar-zyklische Triebdynamik gebraucht Szondi das Bild des Rades, er spricht von Umdrehungen der Vektoren und von Umlaufbahnen der Faktoren, vom Schicksalsrad und von Schicksalskreisen. Das metaphysische Ich, das Pontifex-Ich, der Überbrücker aller Gegensätze und Polaritäten, der innere Lenker des Schicksals, Atman, bildet die Achse des Schicksalsrades, in welche die faktoriellen Pole wie Speichen münden.

 

(Weitere Ausführungen: Visionäre Konzepte: Psychologie der vierten Dimension

Visionäre Konzepte: Schicksalsdiagnostik – Spiegel der Wandlungen)

 

Krankheits- und Gesundheitsbegriff

Aus der triebdynamischen Polaritätenlehre ergibt sich ein an östliche Denkweisen erinnerndes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die Art, wie Menschen mit ihren seelischen Polaritäten umgehen, prägt den Schicksalslauf des einzelnen Menschen und der Menschheit.

Gesund ist ein Mensch, der seine seelischen Gegensätze in komplementäre Polaritäten zusammenzuführen und deren relatives Gleichgewicht und dialektisches Zueinander zu ertragen vermag. Erträgt ein Mensch das komplementäre Zusammenspiel der polar angeordneten Triebkräfte nicht, spaltet er die Pole der Triebfaktoren und Triebtendenzen ab. Dualisiert er sie als unversöhnliche Gegensätze, so erkrankt er.

 

  • Szondi bringt eine differenzierte Systematik leidbringender Lebensschicksale mit Abspaltungen und Blockierung von Ichfunktionen (in der Ich-Umlaufbahn) und von Funktionen in den anderen drei Bereichen (Vektoren) des Trieblebens in Verbindung.

Szondi spricht auch von „Triebentmischung“. Bei Triebentmischungen oder diagonalen Spaltungen geraten die Triebbedürfnisse (Faktoren) in Divergenz und Opposition zu einander.

Der Heilweg führt über die Kontaktnahme mit dem Abgespaltenen und über Integration oder „Triebvermischung“. Triebvermischung oder „Legierung“ meint die gegenseitige Steuerung und Kooperation der Triebfaktoren.

 

  • Szondi begreift die Dynamik in der Ich-Umlaufbahn auch in der Perspektive der „Seinsmachtverteilung“. Bei einer ausgewogenen, „proportionalen“ Verteilung der Seinsmacht gesundet der Mensch, bei einseitiger Verteilung der Seinsmacht erkrankt er.
  • Gewinnt die Umwelt alle Seinsmacht, verfällt der Mensch dem Zwangsschicksal einer gesellschaftlichen Charakterneurose im Sinne von Erich Fromm.
  • Erhalten Vernunft und Verstand einseitig die Seinsmacht, verkümmern Menschen als kalte Rationalisten.
  • Wird der Welt der Ideen alle Seinsmacht verliehen, verlieren Menschen den Boden unter den Füssen.
  • Empfängt das Triebleben alle Macht, so lebt der Einzelne das Zwangsschicksal der Haltlosigkeit und des triebhaften Charakters.
  • Wird alle Macht auf das Erbe und die Vergangenheit übertragen, so verfallen Menschen dem Rassismus, den Nationalismen und der Verklärung der Ahnenvergangenheit.

 

  • Szondis Wirklichkeitsschau ist durch die Intuition geprägt, dass in jedem komplementären Gegensatzpaar (Polarität) die Pole dynamisch und untrennbar aufeinander bezogen sind und eine Einheit bilden.
  • Es gilt, nicht einseitig nach dem Guten zu streben und das Böse zu bekämpfen, sondern vielmehr das Gute und Böse als zwei Seiten der eigenen Ganzheit wahrzunehmen und sie in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten.
  • Zum Verständnis der Affektdynamik und Affektanfälligkeit (Paroxysmalität) mass Szondi der „Kain“- und „Abel“- Polarität eine zentrale Bedeutung bei. Die Aufgabe des Menschen, Kain und Abel als komplementäre Gegensätze (Polaritäten) anzuerkennen und zu leben, findet in der Integrationsfigur „Moses“ symbolischen Ausdruck.
  • In der Gestalt Moses formen sich durch das dialektische Zusammenwirken von Kain und Abel die herausragenden humanen Errungenschaften wie Gewissen und Ethik.

 

Aggressionstheorie

Das vierdimensionale, nach vier Lebensbereichen (Vektoren) ausgerichtete Triebsystem der Schicksalsanalyse bildet den Ausgangspunkt für eine differenzierte Typologie aggressiven Verhaltens. Szondi unterscheidet vier Qualitäten menschlicher Aggression, die triebpsychologisch betrachtet auf spezifische Energiequellen zurückzuführen sind:

 

  • Die lustbetonte, lustsuchende Aggression manifestiert sich als sexueller Sadismus, Masochismus und Sadomasochismus.
  • Die affektbedingte, kainitische Aggression nährt sich aus Affektenergien und äussert sich in anfallsartigen Affekthandlungen, auf die meist eine Phase des Wiedergutmachens folgt.
  • Die ichhafte, alles und alle entwertende und zerstörende Aggression drückt sich in den vielfältigen Formen des Negativismus und der ideologisch motivierten Vernichtung aus.
  • Die Frustrations-Aggression aufgrund des Zukurzgekommen- und Nichtangenommenseins kann beispielsweise zu terroristischen und extremistischen Verzweiflungs- und Befreiungsaktionen von Angehörigen unterdrückter Gesellschaften führen.