Vom Zwangsschicksal zum Freiheitsschicksal

Schicksalsanalytische Therapie

 

In einer Schicksalstherapie geht es um die Befreiung der Menschen von ihrem familiären Zwangsschicksal und um die Überführung eines Zwangsschicksals in ein „Freiheitsschicksal“ oder „Wahlschicksal“.

 

Zwangsschicksal

  • „Zwangsschicksal“ meint zunächst das Erlebnis und die Einsicht eines Menschen, nicht sein eigenes Leben zu führen, sondern unter dem Zwang zu stehen, ungefragt und blind Lebensmuster von Vorfahren wiederholen und leben zu müssen.

 

Szondi unterschied vier Lebens- und Schicksalsbereiche, die sich im Laufe des Lebens zum Zwangsschicksal wandeln können:

 

  • Das Trieb- und Affektleben in seiner genetisch verankerten familienspezifischen und transgenerationalen Weitergabe bilden das „Trieb“- und „Affektschicksal“ oder allgemein das „Erbschicksal“.

 

  • Der Niederschlag der generationenübergreifenden sozioökonomischen Formung und Bearbeitung der Bedürfnisse und Wünsche führt zum „sozialen Schicksal“.

 

  • Das über Generationen weitergereichte Ideenerbe mit seinen Werten, Überzeugungen, Idealen, Lebensregeln und Traditionen formen das „mentale Schicksal“.

 

Menschen, die in diesen Schicksalsbereichen unter einem Zwangsschicksal leiden, setzen sich im Laufe einer Schicksalstherapie mit folgenden Fragen auseinander:

 

  • Was will ich vom Familienerbe und von den Anliegen meiner Eltern und Vorfahren weiterführen?
  • Was will ich in keinem Fall weiterreichen?
  • Was will ich an Einseitigkeiten und Übertreibungen innerhalb meiner Familie modifizieren?

 

Freiheitsschicksal

Kern einer Schicksalstherapie und Voraussetzung für die Überführung eines Zwangsschicksals in ein Freiheitsschicksal bildet die Bearbeitung und Analyse des „Glaubens“- oder „Geistschicksals“.

 

  • Das Glaubens- oder Geistschicksal meint die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Ich eines Menschen, zum Erbe, zum Trieb- und Affektleben, zu seinem sozialen und mentalen Schicksal bewusst Stellung zu beziehen und an einer transpersonalen, Gegensätze und selbst Polaritäten überbrückenden Seinsdimension („Geist“) partizipieren zu können.

 

  • Dieses Kernstück einer Schicksalstherapie bezeichnete Szondi als „Glaubensfunktionsanalyse“. Sie ist Teil und Zielpunkt einer „Ich-Analyse“.

 

Methoden

Im Wissen darum, dass gewichtige Teile der Zwangsschicksale sowohl im biographischen Bereich und dem ihm zugeordneten persönlichen Unbewussten (nach Freud) als auch im kollektiven Unbewussten (nach C.G. Jung) wurzeln, setzte Szondi zur Bewusstmachung und Bearbeitung von Zwangsschicksalen sowohl psychoanalytische Methoden als auch Vorgehensweisen der Analytischen Psychologie nach C.G. Jung ein.

 

Es war oft eine mehr oder weniger lange psychoanalytische Behandlungsphase, mit der Szondi eine Schicksalstherapie begann. Diese Phase umfasste Assoziieren, Erinnern und Deuten von Übertragungen und Widerständen sowie das Durcharbeiten des Bewusstgewordenen.

 

  • Tauchte im Verlaufe des psychoanalytischen Prozesses ein unüberwindbarer, die Therapie ins Stocken bringender Widerstand auf, der als „Kernwiderstand“ aus dem familiären Unbewussten stammte, bediente sich Szondi der Hammerschlag-Methode, auch „Psychoschocktherapie“ genannt.

Er griff aus den Assoziationsketten der PatientInnen Schlüsselwörter heraus und exponierte sie - das Gegenüber völlig überraschend - mit energischer Stimme. Die PatientInnen gerieten in einen veränderten Bewusstseinszustand, den Szondi als Schock, Erschütterung oder Widerstandslosigkeit bezeichnete. In den veränderten Bewusstseinszustand brachen ungewohnte oder bisher nur geahnte und befürchtete Existenz- und Schicksalsmöglichkeiten ein, welche die PatienInnen für kurze Zeit überwältigten.

Unter den kontrollierten Bedingungen der Therapiestunden wurden sich die AnalysandInnen bislang abgewehrter Schicksalsmöglichkeiten bewusst.

 

  • Die dialogisch-aktiv gestaltete Ich-Analyse, von Szondi auch als „Psychosynthese“ bezeichnet, bildete das wesentlichste Wegstück einer Schicksalstherapie.
  • In ihr richtete sich die analytisch-diagnostische Aufmerksamkeit auf Blockierungen und Ausfälle von Ichfunktionen. Individuell und familiär geprägte Muster der „Seinsmachtverteilung“, die zum Zwangsschicksal geworden waren, wurden der therapeutischen Arbeit zugänglich gemacht. Menschen wurden ermutigt, ihr einseitig und süchtig auf Teil- oder Ersatzobjekte verlegtes Interesse aufzugeben, zugunsten bisher vernachlässigter Schicksals- und Lebensbereiche.

 

  • Idealerweise mündete die Ichanalyse in eine Analyse der Glaubensfunktion („Glaubensfunktionsanalyse“). In dieser ermutigte Szondi seine PatientInnen, einen Teil der eigenen Seinsmacht, der im Laufes des Lebens in leidbringende, die Freiheit einschränkende Ersatzobjekte investiert worden ist, auf ein transpersonales, geistiges Glaubensobjekt zu übertragen, das von seinem Wesen her geeignet ist, Macht zu ertragen.

 

Mit seiner Offenheit gegenüber einer spirituellen Dimension sah sich Szondi neben Carl Gustav Jung, Alphonse Maeder und Oskar Pfister als Vertreter der „religiösen Tiefenpsychologie“.

 

Sozialisierungstechniken

In der ichanalytischen Phase einer Schicksalstherapie bediente sich Szondi überdies methodischer Ansätze, die er bereits in seiner heilpädagogischen Arbeit in Ungarn entwickelt und ab 1938 eingesetzt hatte. Er gebrauchte für sie die Sammelbezeichnung "indirekte Heilmethoden".

 

  • Ihnen lag eine konsequente Beachtung der Dynamik zwischen „Vordergänger“ und „Hintergänger“ und der faktoriellen und vektoriellen Drehbühne zugrunde. Einige Vorgehensweisen trugen die Bezeichnung „Umdrehung“, „Umformung“, „Umerziehung“ oder „Sozialisierung“.

Durch Umdrehung der seelischen Drehbühne wurden unerträgliche, sozial negative Existenzformen durch erträglichere und sozial positive ersetzt. Triebbedürfnisse, die bisher in einer Weise ausgelebt worden waren, die den Einzelnen oder die Gemeinschaft gefährdeten, wurden in neuen beruflichen Kontexten sozialisiert und annehmbarer gestaltet.

 

Solche Umformungs- und Sozialisierungstechniken stellen therapeutische Vorgehensweisen vor, die später im „Neurolinguistischen Programmieren“ und in weiteren Kommunikationstherapien als „Reframing“ („Kontextreframing“) und „kontextuelles Umdeuten“ bezeichnet werden.

 

Partizipationstherapien

Bei der Behandlung früher präödipaler, struktureller Ichstörungen und narzisstischen Verhaltensstörungen („Partizipationsstörungen“ und „Akzeptationsneurosen“ nach Szondi) führte Szondi Partizipationstherapien durch.

 

  • In diesen Therapien war Szondi mit archaischen Bedürfnissen nach Verschmelzung und Einswerden sowie nach Anklammern, akzeptierender Spiegelung und nach Halt konfrontiert.

An Stelle oder in Ergänzung von verbalen Deutungen traten szenisch-interaktive therapeutische Angebote. Diese sollten es den Hilfesuchenden ermöglichen, auf präverbale Erfahrungsebenen zu gelangen, die in einem ausschliesslich sprachlich-analytischen Milieu kaum erreichbar wären.

 

  • Beim Vorliegen krasser Missachtung von Generationengrenzen in hochverstrickten Familien setzte Szondi psychagogisch gestaltete „Desimaginationsprogramme“ ein. Szondi half Hilfesuchenden, die Stagnation in der Trauerarbeit zu überwinden, längst fällige Auseinandersetzungen mit verstorbenen Angehörigen voranzutreiben, die Macht von Toten über das Grab hinaus zu brechen. Die Desimaginationsmethoden leiteten eine Entidealisierung von wachstumsblockierenden und autonomiegefährdenden Introjekten ein.

 

  • Szondi führte häufig nur wenige Sitzungen umfassende Kurztherapien durch, die auf den Ergebnissen der Stammbaumaufnahmen und der Szondi-Testprofile basierten. Das Sichtbarwerden von generationenübergreifenden familientypischen Lebensmustern und Schicksalsplänen, Schutz- und Abwehrhaltungen, Sublimierungs-, Sozialisierungs- und Humanisierungsmöglichkeiten wurde für viele Ratsuchende Anstoss und Ermutigung zu weiterführenden Entwicklungsschritten.